Antifragiles Denken für das deutsche Gesundheitssystem

Antifragiles Denken I

Die Herausforderungen wachsen, aber zu wenig passiert

Dass sich im deutschen Gesundheitssystem etwas ändern muss, scheint weitgehend Konsens. Die Tatsache ist: Es ändert sich nichts, wenig, auf jeden Fall zu wenig, gemessen an den Herausforderungen, demographischer Wandel, Generationswechsel in den Gesundheitsberufen, zunehmender Wettbewerb um Arbeitskräfte und erwartbar geringerer Zuwachs an finanziellen Mitteln. 

Wir kennen die Potentiale, aber wir erschließen sie nicht

Seit 15 Jahren sprechen wir über Gesundheitsregionen, Disease-Management Programme, neue Therapieansätze, Prävention, Digitalisierung, die Nutzung von Versorgungsdaten, individualisierte Therapie, Multiprofessionalität und anderes mehr. Auch hier: Es passiert zu wenig. 

Die Diagnose: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem!

Aber warum ist das so?

Verfestigte Strukturen und Vergütungssysteme verhindern Veränderung

Eine Erstdiagnose:

Statische Strukturen. 

Die Strukturen des deutschen Gesundheitssystems sind statisch, der Verbotsvorbehalt zementiert, wer was tun darf, wie viel Honorar er dafür erhält und macht Abweichung davon justiziabel. 

Zersplitterte politische Verantwortung. 

Die Verantwortung im deutschen Gesundheitssystem ist (willkürlich) zersplittert zwischen Bund, Ländern und Selbstverwaltung. Politik auf Bundesebene ist zu einem Versprechenswettbewerb geworden, auf Landesebene haben der Unwillen, die notwendigen Investitionsmittel für Kliniken bereit zu stellen und die Unfähigkeit zu echter Versorgungsplanung eine leistungsgerechte Infrastruktur unterminiert. Und im G-BA blockieren sich die Bestandsinteressen. Der Aushandlungsprozess der drei beteiligten Gruppen, Kassen, Kassenärzte, Krankenhäuser führt zu Zeitverlust, Kompromissen auf Kosten von Effektivität und Effizienz.

Ein überzogenes Verständnis von evidenzbasierter Medizin. 

Gesundheitspolitik findet in einer komplexen Umwelt statt. Voneinander unabhängige Umfeldereignisse führen dazu, dass evidente Beweisführung nur selten und dann oft ex post erfolgen kann. Längst ist dann eine andere Ausgangssituation erreicht. Die Ergebnisse sind also nicht reproduzierbar. 

Lessons learned? 

In der Pandemie wurde nach resilienten Strukturen gerufen. Warum sich alle darauf einigen können? Es mündet in einer Forderung nach mehr finanziellen Mitteln. Resilienz ist also in dieser institutionellen Konstellation zu einem Buzzword für die übliche Forderungen nach mehr Geld, mehr vom Gleichen geworden. Auf jeden Fall: Keine Strukturveränderung. Sprich: Unbrauchbar. 

Antifragiles Denken gefragt

“Antifragiles Denken” ist ein Ansatz, das etablierte Denken in stabilen und “superstabilen Systemen” zu hinterfragen und zu überwinden. Wenn stabile Systeme in Schwierigkeiten geraten, wird nach übergeordneten Institutionen, hier der Politik, gerufen, die durch weiteren Mittelzufuhr und Rettungseingriffen “superstabile Strukturen” schaffen soll. Tatsächlich bewirken diese Eingriffe, dass sich alle Akteure darauf verlassen, auch beim nächsten Mal “von oben” gerettet zu werden, anstatt sich selbst zu verändern. Stabilisierende Eingriffe führen also zu Fragilität. 

Die Finanzmarktprobleme, die Ersatzspielerfunktion der Zentralbanken für die Politik sind dafür ein beredtes Beispiel. Sie produzieren Grossrisiken, die bei der nächsten Erschütterung Systemrisiken erzeugt. 

Es wird Zeit anders zu denken. In Fortführung der Ideen und Schriften von Nassim Nicolas Taleb (“Schwarze Schwäne”) nenne ich es antifragiles Denken. 

Was ist Antifragilität?

Der Grundgedanke ist einfach: Antifragile Systeme sind Systeme, die durch Erschütterungen nicht instabiler, nicht nur stabiler, sondern einfach “besser” werden. Eine neue, zusätzliche Qualität erhalten. 

Antifragiles Denken erfordert, dass wir uns von der Idee statischer Systeme lösen müssen. Ohnehin finden gesellschaftliche Entwicklungen heute in einer komplexen Umwelt statt. Die Zeiträume für Planung und Realisierung “grosser Pläne” unterschätzt die Volatilität seiner Umwelt. 

Selbst wenn man Umfeldrisiken erkennt, wie beispielsweise in der (fossilen) Energie- und Klimafrage, treten sie nie so auf, wie man erwartet. Sie treten nicht isoliert auf, sie treffen auf Systeme mit spezifischen Problemkonstellationen. “Richtige Lösungen” sind deswegen nicht vorab “am grünen Tisch” entwickelbar;  – sie müssen sich in der konkreten Situation entwickeln können. Ein Argument im Übrigen, was auch das Konzept der Evidenzorientierung grundsätzlich infrage stellt. 

Evidenz ist wissenschaftlich nur unter reproduzierbaren Bedingungen herzustellen. Gesellschaftliche Realität ist aber nicht “reproduzierbar”, isolierbar. Einfache Ursache-Wirkungs-Mechanismen führen unter Realbedingungen jederzeit zu unterschiedlichen Ergebnissen. Evidenzbasierung ergibt also nur “Plausibilitätshinweise”. Für Transformationsprozesse oder Systemveränderungen in komplexen Umfeldern, also Umfeldern, in denen verschiedene, voneinander unabhängige Faktoren in zufälligen Konstellationen auf das System einwirken, gibt es keine “idealen” Zukunftsbilder oder -modelle. 

Im Gegenteil: Systeme werden dann “antifragil”, also entwickeln bessere Lösungen, wenn einzelne Akteure für ihre Verantwortungsbereiche “antizipativ” neue Lösungen entwickeln können. Wir könnten es auch institutionelle “Schwarmintelligenz” nennen. Auch Designthinking ist ein ähnlich gelagerte Ansatz. 

Wie sieht die konkrete Fragestellung für antifragiles Denken für das deutsche Gesundheitssystem aus? 

Die Frage ist, wie man ein statisches und superstabiles System wie das deutsche Gesundheitssystem in ein “antifragiles System” überführt werden kann. 

Oder anders, aus einer Akteursperspektive gefragt: 

Wer müsste was tun, damit Gesundheitsakteure von sich aus neue Lösungen entwickeln würden?


Eine Antwort zu „Antifragiles Denken für das deutsche Gesundheitssystem“

  1. Avatar von Dr. Abrecht Kloepfer

    Ich sage immer “Die Vereinssatzung stimmt nicht!”. Das SGB V geht im Kern auf eine Zeit zurück, als es chronische Erkrankung noch nicht (oder kaum) gab. Da waren Sektorengrenzen und fehlende Koordination der “Gewerke” noch kein so großes Problem. Es müsst also als erster Schritt geguckt werden: Wo ist das SGB V kontrapoduktiv für eine adäquate Patientenversorgungen des 21., also digitalen und “chronisch kranken” Jahrhunderts. Vor dieser Entrümpelung haben alle weitere Frickeleien aus meiner Sicht keinen Sinn.

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